Schneewittchens Geister
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Das Schneewittchen dieser Geschichte heißt Ernestine Nordmoor und befindet sich in der Psychiatrie. Selbsteinlieferung - jeder braucht mal Urlaub. Denn Ernestine hat ein Problem: Sie sieht Geister. Als sie wieder nach Hause kommt, warten dort auch schon sieben Geisterkinder auf sie, die um Asyl bitten. Ernestine lässt sich breitschlagen - und stellt dabei fest, dass ihr Hund (der wie das Haus zu einer Erbschaft gehörte) und die Geister nicht nur sehen, sondern auch berühren kann. Schnell wünscht Schneewittchen bzw. Ernestine sich jedoch in die Psychiatrie zurück: Die Geister sind zwar höflich (und schnell fernsehgeschädigt), aber mehrere höllische Killer haben es auf sie abgesehen, denn anscheinend ist sie der Schlüssel zu einer Waffe, welche die Sekretärin des Leibhaftigen unbedingt haben will.
Das Buch erhält 8 von 10 Punkten.
Schneewittchens Geister hat mit dem Märchen nichts zu tun, sieht man von wenigen Anspielungen ab. Der Roman fällt eher durch Charaktere auf, für die bildhafte Abschweifungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Das eher ruhige Tempo treibt die Skurrilität durch Charaktere und Situationen mit ausführlicher Erörterung weiter Richtung Spitze.
Keine Märchen-Persiflage oder Neuerzählung
Was hat dieser Roman mit Schneewittchen zu tun? Ernestines Aussehen, 7 Geister statt 7 Zwerge. Später taucht auch noch ein Dornröschen auf und einige Märchenelemente kann man finden. Aber das Grimmsche Märchenkorpus wird nur am Rande verwendet.
Hier und da werden Namen fallengelassen, einige aus Märchen bekannte Motive tauchen auf, aber die Verbindungen sind eher gering. Dies als Neuerzählung eines Märchens oder auch nur vage als Fairytale Fantasy zu beschreiben, würde nicht wirklich passen.
Wilde Mischung Irrer Charaktere
Denn auch wenn Schneewittchens Geister durchaus bekannte Typen (mit Abwandlung) verwendet: Den typischen Märchenfiguren entsprechen sie nicht. Schneewittchen (Ernestine) will sterben. Sie bildet sich die verschiedensten Krankheiten ein und hofft geradezu, dass diese jetzt endlich tödlich ist, fürchtet aber, dass es nicht so sein wird. Ins Irrenheim weist sie sich selbst regelmäßig ein. Die Ärzte attestieren ihr zudem noch einen Hang zum Exhibitionismus, aber das war nur schlechtes Timing.
Andererseits ist Ernestine nett und lieb und versucht zu helfen - nur ist sie gleichzeitig verträumt und ohne wirkliche Ahnung. Naiv? Das trifft es nicht so ganz, eher verplant und verpeilt. Wenn ich an echte Menschen denke, wirkt die Gesamtfigur nicht allzu realistisch. Dann jedoch ... irgendwie nehme ich sie einfach hin.
Dieser allgemeine Irrsinn ist auch nicht auf Ernestine beschränkt. Serienkiller tragen das Psychopathen-Label ohnehin. Aber auch ein gewisser Okkultist (mit Namen Alexandro "der Apfel" Apollo), eine plötzlich die Bühne betretende Großmutter sowie einige übernatürliche Wesen kann man nicht "geistig gesund" oder "normal" nennen, ohne den Ausdruck zu strapazieren.
Skurril-morbide aber lustig
Das wirkt sich natürlich auf die Geschichte selbst aus: Unkonventionell ist sie sicher, in mancher Hinsicht abgedreht: Horror-Babys und andere ungewöhnliche Schrecknisse werden von der Hölle aufgefahren, neben ganz "normalen" unsterblichen Mördern (seit kurzem mit unnützem Lehrling) im Dienste Satans. Auch Assassinen, die nur per Kreidetafel kommunizieren und ihr Geschreibe mit reichlich Schimpfwörtern garnieren, sind eher nicht alltäglich. Und einige der Figuren sind nicht nur "schwierig", sondern schlicht Ekelpakete.
Und dieser Okkultist ... war ja nicht so, dass er in die Kirche einzog, um ein Auge auf das Anwesen zu haben, das Ernestine erbte. War ja nicht so, dass Ernestine schon seit mehreren Jahren dort wohnt und er es nur nicht bemerkt hat. ... Also, doch, eigentlich war es genau so und vielleicht hätte er auch eine klitzekleine Information an Ernestines Großmutter weitergeben sollen, damit diese ihre Enkelin über das Familienerbe aufklären kann.
Dieses Familientreffen ist bisweilen sehr gehässig, zänkerisch und zynisch. Tiefschwarzen Humor und fließendes Blut gibt es reichlich: Hier wird nicht gedroht, hier wird der Finger gleich abgeschnitten. Dennoch ist Schneewittchens Geister nicht so düster, wie es klingt oder das Cover nahelegt: Die skurrile Überzeichnung lässt es eher abgedreht als brutal wirken, zumal man die Figuren in ähnlicher Form kennt.
Chaotisch-Rasante Handlung mit Fragezeichen
Jenes Familienerbe ist der typische Standard-Plot: Nur über Ernestines Blut kommt die Hölle (in Person von Satans Sekretärin) an eine "ultimative Waffe". Hier beginnen allerdings die Löcher im Plot: Warum fällt der Hölle dies gerade jetzt ein? Warum nicht das Blut von Ernestines Vorfahren oder ihrer Familie, die einfach so umgebracht wird?
Schneewittchens Geister hält sich mit solchen Fragen nie auf: Stets geht es vorwärts, Details werden nicht geklärt. Die generelle Skurrilität hilft, diese Lücken zu überdecken: Im Tempo des Romans kommt man nicht dazu, zu viel nachzudenken. Und vielleicht ist dies ja sogar passend für einen Roman, deren Titelfigur regelmäßig Gast in der Klapsmühle ist. Irre Wendungen gibt es jedenfalls ständig.
Am Ende sind dann einige Fragen auch trotz fünf Epilogen(!) offen. Mindestens einer davon ist gutmütig-gehässig-amüsant. Das ist ein Paradox? Na meinetwegen ...
Stil mit Ausschweifungen
Auffällig ist auch der Stil des Romans. Mehrere Handlungen scheinen zunächst unabhängig voneinander zu verlaufen, verbinden sich aber später, was die Seltsamkeit von Ernestines Familie nur noch stärker betont. So gelingt es der Großmutter, ohne Pause mit dem Okkultisten zu streiten und dabei dennoch eine zielgerichtete Unterhaltung zu führen.
Gleichzeitig beschwören sowohl Erzähler als auch die Charaktere sehr bildhafte Vergleiche herauf. Ein Beispiel von vielen:
Labert die Autorin also nur daher? Nein, auch nicht, wenn dieses Zitat den Eindruck erwecken kann. Schneewittchens Geister liest sich trotz ausführlicher Darstellungen erstaunlich flüssig und es gibt sogar diesen "Nur noch ein Kapitel"-Effekt.
Schrägen Stil muss man mögen
Es bleibt allerdings zu sagen: Den schrägen Stil muss man mögen. Wer eine klare, logische Geschichte ohne Plotlöcher will, sollte Schneewittchens Geister vermutlich besser liegenlassen. Persönlich fand ich die blumigen Ausschmückungen, mitunter amüsant, gelegentlich irritierend, nur selten nervig.
Wie die Geschichte ausgeht, war in gewissem Maße vorhersehbar - auch wegen der durchaus bekannten Elemente (Familienerbe, Archetypen). Aber auch hier überraschte mich der Autor auf eine ungewöhnliche und nicht ganz unlogische Weise. Aufrechterhalten kann man den Vorwurf, dass "einfach alles passiert" ohne dass die Heldin eine nennenswerte eigene Leistung vollbringt oder das Geschehen beeinflusst.
Fazit: Schneewittchens Geister ist ein Roman für alle, die es schräg mögen und dafür über einige offene Fragen hinwegsehen. Denn schräg, skurril, abgedreht ist der Roman - ebenso wie morbide und humorvoll.
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Nico hat besonderes Interesse an Fantasy sowie ihrem Bezug zur Realität und anderen Texten (Intertextualität). Nico studierte Literatur in Deutschland und England. Wenn er nicht liest, läuft er oder ist im Tischtennis unterwegs.
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