Buch-Cover, Käthe Recheis: Erzählungen nach Shakespeare

Erzählungen nach Shakespeare

Genre: Kinderbuch oder Jugendbuch
Verlag: Arena-Verlag
Seiten: 245
Erschienen: 05/2006 (Original: 2006)
ISBN: 3-401-02438-8
Preis: 6,95 Euro (Softcover)
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Wertung: 3/5 Grimoires; 7/10 Punkte, Gut

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Die Erzählungen nach Shakespeare haben mich – sanft ausgedrückt - schockiert. Wer die Stücke gelesen hat, wird sie zweifelsohne wiedererkennen, doch wurden sie hier vereinfacht und verdreht: Alles hat eine Erklärung eindeutige Erklärung bekommen und die Enden wirken viel netter als bei Shakespeare. Zwar sterben die Protagonisten von Tragödien nach wie vor, aber in einer Nachbemerkung wird dann doch alles (mehr oder weniger) gut und/oder das Ganze war nur ein bedauerliches Missgeschick – und das Nachspiel behebt die Schäden, wobei dies im Original nicht ganz so eindeutig ist.

Neben der Uneindeutigkeit in Shakespeare (warum wohl gibt es zig verschiedene Interpretationen?) fielen der Umwandlung in Erzählungen auch "Nebenplots" zum Opfer. Dabei interessierte es augenscheinlich nicht, dass jene Nebenplots teilweise essentiell sind: Im Sturm wird Caliban erwähnt, spielt dann aber keine Rolle; die betrunkenen Matrosen treten überhaupt nicht auf; Prospero ist der edle Wohltäter und viele Gelehrte in jener Zeit beschäftigen sich mit Magie [sic!]; Caliban ist eindeutig und unverbesserlich böse. Auf diese Art wird meiner Meinung nach der Gesamte Sturm ruiniert.

Auch in anderen Erzählungen fielen Handlungsstränge der Vereinfachung zum Opfer: Der Sommernachtstraum muss ohne Handwerker auskommen; Die Widerspenstige wird gezähmt ohne dass ihre Schwester Aufmerksamkeit bekommt; Beim Wintermärchen wurden Kleinigkeiten wie der Betrüger und Dieb entfernt; Im Sommernachtstraum fallen die Handwerker und Hippolyta weg; Was Ihr Wollt vergisst Malvolio und nahezu alle Charaktere, die mit diesem Plot zusammenhängen; Romeo und Julia ist im Wesentlichen erhalten, Paris fehlt jedoch bis fast zum Ende; Macbeth ist ein Irrer und die Hexen werden in eine Serie voller Unlogik gestürzt, der Dolch wurde natürlich auch vereinfacht; Hamlet ist einfach krank und im Wahn; Ophelia ist blass. Othello schließlich verliert an Farbe: Iago (Jago) wirkt viel weniger verschlagen. Zudem wurde der Mohr zu einem "Afrikaner". Verdammt sei diese unsägliche Politische Korrektheit oder vielmehr Politische Idiotie. Den Titel zu ändern hat man sich dann doch nicht getraut, wie wäre es damit? "Othello, der Afrikaner von Venedig"...

Dies nur die einschneidendsten Veränderungen(!). Insgesamt wurde alles entfernt, was Shakespeare so lesenswert macht: Alle Doppeldeutigkeiten, alle Stellen die Interpretation bedürfen wurden auf eine einzige mögliche Bedeutung beschnitten. Und im Fall von Macbeth widerspricht sich der Text sogar selbst: Die Schicksalsschwestern können nicht böse sein - sie sind das Schicksal. Hier sind sie es doch. Und dann sind sie Hexen und böse - zum Verrücktwerden, nicht nur für Macbeth! Im Original sind selbstredend beide Deutungen – Hexen ODER Schicksal – möglich, aber in der Kombination funktioniert es nicht und stellt zudem Schicksal als grundlegend Böse dar.

Kurz und bündig: alles wird definitiver, nicht zuletzt dadurch, dass hier ein allwissender Erzähler spricht und nicht die beschränkten Figuren eines Dramas, die noch stärker in ihrer subjektiven Sicht gefangen sind.

Neben den Änderungen irritiert ebenfalls, dass einige Stellen nahezu wörtlich übernommen wurden. So zum Beispiel der Epilog des Sommernachtstraums: Der Leser wird um Entschuldigung gebeten und möge es als Traum ansehen, wenn es zu wild war. Was im Drama passend wirkt - und natürlich zum Titel beiträgt - wirkt hier einfach nur aufgesetzt. Auch andere Stellen sind sehr exakt übernommen, aber davor und danach wurde ungezügelt gekürzt. Die Effekte sind oft kurios, wie auch in Hamlet, wo Schauspieler plötzlich Lyrik vortragen.

Also, in Kurzform an alle Schüler, die sich die Ersparnis einer langen Lektüre erhofften: Vergesst es, hier wurde so viel Verändert, dass ihr damit auf die Nase fallt.

Der Grund ist jedoch auch klar und nicht verwerflich: Jüngere Leser sollen an Shakespeare herangeführt werden - und für diese ist es eben nötig, den komplexen Stoff zu vereinfachen, wie in der Vorlage von 1807. Dabei wurde dies meines Erachtens übertrieben: Wortwörtliche Wiederholungen hätten stellenweise vermieden werden können und das Ersatzwort lag auf der Hand. Auch können 12jährige – so die Empfehlung – mit ein wenig mehr Shakespeareschem umgehen – zumindest jene, die gerne und viel lesen, also am ehesten an dieses Werk gelangen.

Ich bin von den Erzählungen nicht überzeugt. Einerseits: ja, sie mögen junge Leser an Shakespeare heranführen und das ist gut. Andererseits aber liefern sie den Kindern vorgefertigte Interpretationen und FALSCHE Shakespeare-Stücke. Und das, ohne in irgendeiner Form darauf hinzuweisen: zumindest dies hätte ich begrüßt. So aber fürchte ich zweierlei: Zunächst wird Kontakt mit dem "echten" Shakespeare einen gewissen Schock auslösen: "Wie? Prospero war gar kein netter Zauberer und Magie war verboten? Und Prospero beschwor sogar Tote?!". Und natürlich das Problem der "Interpretation als Wahrheit". Diese Wahrheit gilt für die Erzählungen nach Shakespeare. Der echte Prospero ist jedoch nicht einfach gut sondern viel komplexer und die meisten die ich kenne, sehen ihn eher als den Bastard und Tyrannen des Dramas. Mit der Wahrheit dieser Geschichte im Hinterkopf mag es später sehr viel schwerer fallen, sich auf andere Interpretationen einzulassen: "Aber das ist doch soundso". Nein, ist es nicht.

Die Wertung für dieses Buch stürzt mich in ein Dilemma. Das Ziel der Zugänglichkeit für jüngere Leser wurde erreicht, ging jedoch auf Kosten der Integrität des Stoffes. Dies ist nicht mehr Shakespeare; das Buch bietet in keiner Form Ersatz - nicht einmal als Zusammenfassung oder Handlungsabriss. Dennoch sind es schöne, einfache Geschichten für Kinder. Dass Shakespeare als Grundlage diente, sollte man jedoch besser nicht zu sehr hochspielen: dies sind ERZÄHLUNGEN NACH Shakespeare, nicht Erzählungen nach SHAKESPEARE.

Die Wertung von 7 Punkten wurde dementsprechend im Hinblick auf die Umsetzung eines Stoffes als Kurzgeschichten für Kinder/Jugendliche gegeben und nicht als Variante zu Shakespeare wie es beispielsweise „Die Insel des Magiers“ ist – auch diese interpretiert eindeutig, bezieht aber klar Stellung und gibt sich nicht durch den Titel eine scheinbar starke Bindung an den englischen Nationaldichter.

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Avatar von nico Rezension von: (Grimoires.de)
Nico hat besonderes Interesse an Fantasy sowie ihrem Bezug zur Realität und anderen Texten (Intertextualität). Nico studierte Literatur in Deutschland und England. Wenn er nicht liest, läuft er oder ist im Tischtennis unterwegs.

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